KURZGESCHICHTE | DIE BERGHÜTTE
Vorgabe:
Dieses Jahr fällt der dritte Advent auf den Jahrestag von Angelo und Wim. Die beiden sind seit genau fünf Jahren ein Paar, erlebten Hochs und Tiefs, Krisen ebenso wie ganz fantastische Zeiten miteinander.
Das letzte Jahr war besonders hart. Angelo wurde von einem schweren Schicksalsschlag getroffen. Wim wich ihm nicht von der Seite, war nicht nur ein verlässlicher und verständnisvoller Partner, sondern für Angelo so etwas wie ein Fels in der Brandung, eine starke Schulter zum Anlehnen. Dabei stellte Wim eigene Bedürfnisse zurück und er tat es gern, er tat es aus Liebe.
Als Wim am frühen Nachmittag des dritten Advents von der Arbeit nach Hause kommt, liegen eine Rose und eine Karte mit dem schlichten Wörtchen ›Danke‹ auf dem Küchentisch. Darin befindet sich eine Wegbeschreibung zu einer Hütte in den nahe gelegenen Bergen.
Überrascht und ein wenig aufgeregt bricht er auf, findet den beschriebenen Parkplatz auf Anhieb und legt bei beginnender Dämmerung den kurzen Aufstieg zu Fuß zurück. Im einsetzenden Schneefall kommt er an der Holzhütte an. Auch auf mehrmaliges Klopfen reagiert niemand. Mit pochendem Herzen öffnet er die Tür.
Ich schaue in eine erstickende Schwärze. Mittlerweile lugt der Mond ab und an zwischen der ansonsten dichten Wolkendecke hervor; doch auch er schafft es nicht, den Raum hinter dieser Tür etwas zu erhellen. Das einzige, was ich sehen kann, ist, dass das Zimmer einen rustikalen Steinfußboden hat, wie es sich für solche Berghütten eben gehört. »Angelo?« Meine Stimme ist rau. Schon heute Nachmittag habe ich bemerkt, dass sich da wohl eine Erkältung anbahnt. Warum hat der Gute mich nur hierher geführt und – was noch viel wichtiger ist in diesem Augenblick: Wo ist er eigentlich?
Ich ziehe den Schal enger um meinen Hals und schaue mich um. Auch hier draußen ist weit und breit keine Menschenseele zu sehen. Dafür ist es ziemlich kalt und der Wind bläst scharf. In der Ferne kann ich erkennen, wie sich die Spitzen der hohen dunklen Tannen im Wind wiegen. Ich blinzle und krame gedankenversunken in meiner Jackentasche nach der Karte von Angelo. Noch einmal lese ich im fahlen Licht seine Zeilen, dann schaue ich auf und blicke den Weg zurück, den ich gekommen bin. Er endet hier. Es besteht daher kein Zweifel, dass ich richtig bin. Ich seufze leise und drehe mich wieder zur offen stehenden Tür um. »Angelo? Bis Du da?«, frage ich noch einmal in die Dunkelheit hinein, aber immer noch antwortet mir niemand. Unschlüssig, ob ich den Weg wieder zurück oder in die Hütte hinein gehen soll um zu warten, nimmt mir ein heftiger Windzug die Entscheidung ab. Außerdem ist der Schneefall stärker geworden. Noch ein wenig skeptisch, übertrete ich daher die Schwelle und auf einen leichten Druck hin, fällt die Tür mit einem gehorsamen Knarren hinter mir in das schwere eiserne Schloss.
In dem Zimmer, in dem ich jetzt stehe, herrscht fast vollkommene Stille. Automatisch beginne ich damit, die Wand links neben mir abzutasten. Sie ist grob verputzt. Scharfkantige Spuren drücken sich in meine Fingerspitzen, während ich nach einem Lichtschalter suche, aber keinen finde. Vermutlich gibt es hier oben keinen Strom und das Licht wird von Gasleuchten oder sogar lediglich durch Kerzen gespendet. Doch selbst wenn ich eine Gaslaterne oder ein paar Kerzen in dieser Dunkelheit finden würde, würde mir dies nichts bringen, da ich kein Feuerzeug bei mir trage. Ich habe vor zwei Jahren das Rauchen aufgegeben. Seitdem besitze ich keines mehr, um mich auch ja nicht mehr in Versuchung zu bringen.
Mit einem leisen Schnaufen, welches meinen Unmut deutlich macht, schiebe ich die klammen Hände wieder in die gefütterten Jackentaschen zurück. Ein leichter Geruch von kaltem Feuerrauch hängt in der Luft, und ich erkenne sofort, dass ich tatsächlich allein bin. Ich lasse meine Augen angestrengt durch den Raum wandern und mache flüchtig einige Gegenstände aus, welche ich ihrem Umriss nach schnell einem Tisch und zwei Stühlen zuordnen kann. Gegenüber an der Wand scheint ein Bett zu stehen, es ist breit und die Kissen und Decken sind hell; vor dem Bett ruht eine große Truhe. Rechts davon gähnt ein riesiges schwarzes Viereck in der Wand. Der Kamin. Der Wind pfeift durch den Schornstein und das Geräusch lässt mich unwillkürlich frösteln. Es ist nicht warm in der Hütte. Wie ich Angelo kenne, hatte er dies sicher anders geplant. Aber wo ist er nur? Habe ich mich denn so sehr in der Uhrzeit geirrt? Ich schiebe den Jackenärmel zurück und aktiviere das Licht an meiner Digital-Uhr. Die Ziffern verraten mir, dass ich 15 Minuten zu früh dran bin. Dennoch bezweifle ich, dass Angelo nicht schon längst hier wäre, wenn ihn nichts aufgehalten hätte. Durch die Butzenscheiben der zwei kleinen Fenster, welche auf der linken Seite liegen, sehe ich draußen ganz schwach immer dickere weiße Flocken in einem wilden Tanz umher wirbeln. Ich ziehe die Stirn kraus, bei der Vorstellung, dass mein Auto gerade unter einer Schneedecke begraben wird und der Gedanke an das garantierte abendliche Schneechaos auf den Straßen begeistert mich wenig. Kurzum entschließe ich mich trotz aller, immer stärker in mir aufwallenden Sorgen um meinen Freund, eine halbe Stunde zu warten, ehe ich mich auf die Suche nach ihm machen werde.
Ich gehe die paar Schritte auf den Tisch zu, ziehe einen der Stühle an seiner hohen Lehne zurück und lasse mich ratlos auf diesen fallen. Die Sitzfläche ist aus stramm gebundenem Sisal, daher ist sie nicht so kalt, wie ich zunächst erwartet habe. Doch dies bemerke ich nur am Rande. Angelo bestimmt mein ganzes Denken. Ich falle ins Grübeln und lasse meine Augen dabei geistesabwesend über den Tisch schweifen. Aber dann, muss ich plötzlich leise lächeln und eine innere Wärme durchflutet mich. Der Tisch ist gedeckt. Sich gegenüber stehen zwei Gedecke aus einem flachen und einem tiefen Teller und zwei Weingläser. Daneben liegt Besteck. Gabel, Messer, Löffel. Ich entdecke eine Servierplatte rechts von mir; sie ist mit einer Klarsichtfolie abgedeckt. Ebenso steht dort ein Topf, nebst einer Weinflasche und einem Kerzenständer. Nur mühsam widerstehe ich der Versuchung, den Deckel des Topfes anzuheben um hinein zu linsen und was sich genau unter der Klarsichtfolie der Platte verbirgt, kann ich bei dem spärlichen Licht auch nicht erkennen, aber ich weiß jetzt, dass ich mich nicht geirrt habe. Ich bin richtig. Vorsichtig zupfe ich an der hellen Tischdecke. Sie ist weich und fest. Er hat wirklich an alles gedacht. Ich spüre, wie sich der liebevolle Schimmer der Tränen auf meine Augen legt. Ich muss zugeben, dass ich tief bewegt bin. Auch wenn Angelo nicht da ist. Noch nicht. Ich weiß, dass er kommen wird. Ganz bestimmt.
Das Jahr, das hinter uns liegt, war alles andere als leicht. Dennoch hätte ich das hier nicht erwartet. Viele kleine Dinge in unserem Alltag waren mir Dank genug. Ich wische mir mit den Fingerspitzen über die Augen und ziehe verräterisch die Nase hoch. Um etwas zu tun, aktiviere ich noch einmal meine Uhr, um einen Blick darauf zu werfen. Zwei Minuten vor sechs. Draußen fegt der Wind ums Haus und verirrt sich ab und an pfeifend in dem dunklen Kaminschacht. Die Atmosphäre ist sicher alles andere als heimelig, aber für mich ist sie beinahe heilig. Ich schließe die Augen und genieße alles, was mich umgibt. Den Geruch des Feuerrauches, das leise Knistern der Schneekristalle gegen die Fensterscheiben und die Stille. Ich fühle mich unendlich geliebt und etwas tief in mir beginnt sich nach Angelo zu sehnen. Er fehlt mir. Er sollte hier sein. Ich vergesse die Zeit, während ich in Gedanken seinen vertrauten Duft einatme und mit meinen Händen in seine weichen Haare fahre.
Plötzlich, ein Poltern vor der Tür. Ich reiße die Augen auf und bin umgehend auf den Beinen. Zwei, drei Schritte und ich öffne die Tür mit einem Ruck. Davor steht jemand, er duckt sich vor der Kälte und die dunkle Kapuze seines Anoraks ist fast weiß von Schneeflocken. Eine Sekunde später hebt er blinzelnd den Kopf und ich erkenne sein Gesicht. »Angelo!«, rufe ich erleichtert und trete aufgeregt beiseite, um ihn erst einmal hineinzulassen, auch wenn mir eigentlich nach was ganz anderem zumute ist.
»Ich wusste, dass du schon hier bist.« Er lächelt gequält und wirft die Tür hinter sich ins Schloss. Atemlos schiebt er die Kapuze vom Kopf und muss wohl erst einmal verschnaufen. Gut möglich, dass er den Marsch zur Hütte hinauf rennend zurück gelegt hat. Endlich nehme ich ihn in die Arme und drücke ihm einen Kuss auf die Lippen. Sein Gesicht ist nass vom Schnee. Nur zögernd lasse ich von ihm ab. Ich hätte ihm gerne etwas von meiner Wärme abgegeben, aber zunächst einmal sollte er aus diesen Klamotten raus.
»Wo bist du gewesen?«, frage ich ihn erstaunt und lasse es mir nicht nehmen, ihm die feuchten Haarsträhnen aus der Stirn zu streichen.
Er greift sich in die Jackentasche und ich vernehme ein leises Knipsen. Gleich darauf erhellt eine kleine, warme Flamme sein junges Gesicht. Er grinst zerknirscht. »Ich habe das Feuerzeug zu Hause vergessen.«
© Jayden V. Reeves; 12|2017