NEWS | 2024-10-19
So, heute kommt der nächste BOOKOPOLY Beitrag und Irvin L. Kendall hat mir auf dem Feld HISTORIENSTRAßE (btw, warum gibt es eigentlich immernoch keinen Großbuchstaben für das ›ß‹?) folgende Aufgabe gestellt:
»Protagonisten haben eine Vita mit einer Vergangenheit – Geburtsort, Familie, Kindheit, Erlebnisse. Wie gründlich denkst du darüber nach, was deine Protagonisten erfahren haben, ehe sie in deiner Geschichte auf der Bildfläche erscheinen? Stelle uns eine solche Vita vor (mit Zitat, wenn du magst). Welchen Einfluss hat sie auf die Handlungen deines Protagonisten?«
Da musste ich etwas länger drüber nachdenken. Bei meiner Debüt-Dilogie war es so, dass Nathanyels und Rileys Vita – was ihren familiären chronologischen Hintergrund anging – hauptsächlich entstanden ist, während ich die Geschichte der beiden geschrieben habe. Ich habe mir da vorher nicht so wirkliche Gedanken drüber gemacht.
Nathanyel ist ein nicht-diagnostizierter, meist hochfunktionaler, weit überdurchschnittlich intelligenter Asperger Autist und da ich beruflich mit Betroffenen im Rahmen der Diagnostik zusammenkomme, stand für mich auch umgehend fest, was er aufgrund seines Autismus‘ als Kind und Jugendlicher erlebt hatte, wie er die Welt wahrgenommen hat und wie die Gesellschaft ihn wahrgenommen hat – und letztendlich wie ihn das geprägt hat und zu dem Menschen machte, den er mit 25 Jahren in der Geschichte verkörperte.
Dabei muss ich allerdings sagen, dass es nie den ›einen Asperger‹ gibt. Die Betroffenen sind genauso unterschiedlich, wie es andere Menschen sind. Das kommt daher, weil nicht jeder Asperger alle Merkmale aufweist, deswegen spricht man auch von einem autistischen Spektrum. Die Merkmale sind in jedem Fall immer unterschiedlich stark ausgeprägt und dementsprechend mal mehr, mal weniger einschränkend.
Nathanyels autistische Manierismen haben entsprechend großen Einfluss auf seine Beziehung zu Riley, welcher mit Autismus nie zuvor in Berührung gekommen ist und aufgrund seiner eigenen Lebensgeschichte viel zu sehr mit sich beschäftigt ist.
Nathanyel hatte anders als Riley nie ein Problem, sich zu seiner Homosexualität zu bekennen. Homosexualität war nie ein großes Thema für ihn gewesen, ganz im Gegensatz zu seiner Mutter und seinem Bruder.
Die Geschichte beginnt mit einem Prolog, in welchem der zehnjährige Nathanyel von seinem sechzehnjährigen Bruder Delwyn bewusst zu einem Haus gelockt wird, in dem der Junge beobachtet, wie ihr gemeinsamer Vater mit seinem jungen Liebhaber sexuell verkehrt. Alles, was in diesem Prolog geschieht, bildet den maßgeblichen und wortwörtlichen Rahmen der kompletten Dilogie.
›Ich öffne den Mund und betrachte den Mann, während dieser seinen Unterleib rhythmisch vor- und zurückbewegt. Ich beobachte, wie seine Gesäßmuskeln arbeiten, wie er sie an- und wieder entspannt. Meine Augen werden groß. Ich darf so etwas nicht sehen. Meine Mutter hat gesagt, ich sei dafür noch zu jung. Doch ich kann den Blick nicht abwenden. Es ist einfach zu faszinierend.‹
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aus ›Der steinerne Garten Bd.1‹ | überarbeitete Neufassung
Mit Rileys Drogensucht war es hingegen anders. Die war weitgehend durchgeplant und ich habe mir überlegt, inwieweit er im Rahmen von Beschaffungskriminalität unterwegs war und wie er während seiner schlimmsten Abhängigkeit gelebt haben könnte. Auch das Zusammenleben mit Jamie Warren und die spätere Schilderung der Zusammenarbeit mit Graham Lancaster habe ich mir genau überlegt. Seine Kindheit und Jugend wie gesagt, allerdings nicht. Ich habe ein Gefühl in mir getragen, was Riley charakterlich für ein Mensch ist, ich habe angefangen zu schreiben und dann war seine familiäre Herkunftsgeschichte einfach da und ich habe sie niedergeschrieben. Im Nachhinein bin ich überzeugt, dass meine frühere berufliche Tätigkeit in der stationären Jugendhilfe hier ebenfalls einen erheblichen Einfluss gehabt hat.
Dass ich mir bei beiden Protagonisten, was ihre Familien an sich anging, nicht vorher Gedanken gemacht habe, erklärt vielleicht, warum diese sich hier so sehr ähneln. Beide haben einen Elternteil, der sich suizidiert hat, beide haben einen Bruder und eine Schwester – bei beiden ist die brüderliche Beziehung desaströs, während die Schwestern Halt und Orientierung zu geben versuchen. Das fällt auf – und so manches Mal ärgert mich die Ähnlichkeit auch – aber was soll’s – so ist es nun mal und warum sollte dies auch nicht möglich sein? Trotz der Streitigkeiten unterscheidet sich Rileys Bruder Brian charakterlich immens von Nathanyels Bruder Delwyn. Und die Suizide in der Familie haben beide einen jeweils anderen Hintergrund.
›Ich bin keine Schwuchtel. Kein Grund zur Beunruhigung.‹
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aus ›Der steinerne Garten Bd.1‹ | überarbeitete Neufassung
Rileys Vita hat auf seine Charakterentwicklung zu dem Zeitpunkt, zu dem der Leser in die Geschichte einsteigt, eine massive Auswirkung. Zu Beginn des ersten Bandes erlebt man einen Menschen, der aufgrund seines Drogenkonsums und seiner kriminellen Vergangenheit, nicht viel von sich hält. Das Glas ist immer halbleer und er neigt zu depressiven Phasen. Aus seiner Perspektive hat er zeitlebens seine Eltern enttäuscht, war schon als Kind neben seinem strebsamen älteren Bruder immer das schwarze Schaf und man erlebt, dass er immerzu aus einem tiefen Schamgefühl heraus seine Zwillingsschwester von sich stößt, da er glaubt, deren Liebe und Fürsorge nicht wert zu sein. Er ist verschlossen, impulsiv, gewalttätig und uneins mit sich. Er ist in einem Zustand ständiger emotionaler Verzweiflung.
Er stammt aus einer konservativen irischen Familie mit einem strengen katholischen Glauben und wie wir alle wissen, wird in dieser Religion homosexuelle Liebe ausdrücklich verurteilt. Das prägt ihn zusätzlich. Da er bisexuell ist, verdrängt er seine ersten homosexuellen Neigungen, sobald diese in Erscheinung treten und fällt demzufolge in einen ohnmächtigen bis aggressiven Ausnahmezustand, als ihm seine eigentlich sexuelle Orientierung durch die Begegnung mit Nathanyel bewusst wird. Das darf nicht sein und er beginnt sich zu verleugnen.
»Du hast dich geirrt«, hörte er sich sagen, gleichwohl merkend, wie dünn seine Stimme bei dieser Lüge klang. »Ich stehe nicht auf sowas.«
»Nein. Natürlich nicht.« Ein höhnischer Zug legte sich um Nathanyels Mund. Der Mund, der ihn soeben noch geküsst hatte. »Wem willst du hier eigentlich was vormachen?« Und damit wandte er sich von ihm ab und verließ das Zimmer.
Riley ließ den Hinterkopf ungläubig gegen die Schranktür fallen. Er liebte Frauen. Er schlief mit Frauen!
›Und dennoch bist du zuerst hart geworden.‹
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aus ›Der steinerne Garten Bd.1‹ | überarbeitete Neufassung
Die Vorbereitungen für mein nächstes Buch verlaufen gänzlich abweichend von meiner Vorgehensweise bei der Dilogie. Das liegt aber daran, weil das Buch stilistisch ganz anders aufgebaut sein wird. Es wird zwei Teile geben, wovon einer die Geschehnisse der Vergangenheit behandelt. Dort liegt also die Wurzel des eigentlichen Plots und demzufolge muss die Geschichte der dort agierenden Familien auch in viel feineren Einzelheiten beschrieben werden. Ein Grund, genauer hinzuschauen und sich Gedanken zu machen.
Thx fürs Lesen! ^^
Ich hoffe, es war interessant für Euch.
Jede Woche gibt’s einen weiteren Post auf meiner Autorenseite auf Facebook unter dem Hashtag #bookopoly. Dort könnt Ihr auch die Beiträge der anderen Autor:innen entdecken. ^^
Jay xxx